Category Archives: Tagebuch

Dreiflüglig

Manche Geschenke haben eine lange Inkubationszeit. Manche Geschenke verstehst Du erst mit der Zeit. Ich nehme den schwarzen Pfeil in die Hand, der Bogen steht vorsichtshalber in einer anderen Zimmerecke. Weiße Schrift umspannt den Pfeilschaft, bis hin zu einer breiten Linie, die ungefähr den Punkt markiert, der gerade noch zu sehen wäre, wenn der Pfeil einen Brustkorb durchschlüge und so steckenbliebe, dass seine Spitze wieder kurz vorm Austritt stünde.
Zum ersten Mal wird mir klar, dass ich diese weiße Schrift, diese kleinen Worte tatsächlich jemandem durchs Herz jagen könnte. Dass die Worte dann in ihm wären, tiefer als gut für ihn ist und auf pervers physikalische Weise. Eine materialisierte Metapher. Ich weiß nicht, warum dieser Gedanke mich gefangen nimmt.
Der Pfeil ist handgemacht. Ich erinnere mich an meine Verblüffung beim Auspacken, als mir nach einigem Drehen und Wenden aufging, dass der Pfeil nicht einfach nur verziert wurde, sondern von Grund auf für mich gemacht. Über seiner Schwanenbefiederung trägt der schwarze Schaft einen dreifachen Schmuck aus Pfauenfedern. Kein schlechtes Pendant für die dreiflüglige, geschliffene Stahlspitze.

Nonverbale Süßigkeiten

Unbekanntes reizt mich. Deshalb, genau deshalb, weiß ich seit einigen Tagen, dass ich achtstündige Brettspielrunden samt einer Bibel von Regelwerk überlebe. Gerade so. Aus demselben Grund kenne ich Menschen, die ich sehr mag, denen ich aber prinzipiell nichts zu sagen habe. Fast nichts. So bleibt es bei goldenen Blicken, stillen Tastversuchen, neugierigen Sonden in fremden Gewässern. Nonverbale Süßigkeiten.
Und ich hüpfe wie ein kleines Kind durch die Wohnung. Träume Abenteuerträume, verschlafe meinen freien Morgen. Die Sonne ist heute vor mir da. Als ich sie hereinlasse und Kerne in die Muschel am Balkon lege, kommen die Meisen. Schweigen ist Gold. Wer immer das sagte, wusste, wovon er sprach.

Badewannenbücher

Die Zukunft der Badewannen ist da. Und ich sinke in Badewasser, dessen Temperatur meinen Kreislauf hart an seine Untergrenze bringt. Es gibt jetzt auch Badewannenbücher. Das sind Bücher, die Wasserflecken haben dürfen, Eselsohren, und die sich wellen und wölben im Dampf. Geschichten für ein vor Hitze schwirrendes Hirn.
Bald wird die frischgebackene Wohngemeinschaft auch ihre Küche bekommen. Obwohl ich nicht kochen kann und dieses Können auch niemand von mir erwartet, freue ich mich. Ihr wisst ja, wo jede gute Party endet.

Als Handschuh

Manchmal werde ich hellwach, ganz plötzlich, mitten unter den müden Passagieren, und vielleicht kennst Du es, dieses Gefühl, dass etwas in Dich hineinfährt, Du als Handschuh, und Du spürst, dass das Hineinfahrende Du bist und mehr als Du.

Kaffbahnen

Auf dem morgendlichen Bahnhof, genauer, auf einem der großen Buchstaben, die zusammen den Ortsnamen ergeben, sitzt eine kleine Eule und schaut. Es ist noch dunkel. Sechs Buchstaben weiter sitzt eine Taube und schläft.
Innerhalb von vier Tagen lege ich achthundert bis neunhundert Kilometer per Bahn zurück. Leider nur hin und her, so dass es weniger spannend ist, als es klingt. Es ist aber auch weniger schrecklich, als es klingt, je nach Betrachtungsweise, je nach Geschmack. Einerseits verfluche ich die Kaffbahnen, in denen es keine Tische, geschweige denn Rechneranschlüsse gibt, und deren Polster an Sperrmüllsofas erinnern. Andererseits schaukle ich gern durch die Landschaft, ahnungslos und irgendwie kontrollverlustig, auf diesem schaukelnden Sofa lebend als wäre es die Welt, ein Passagier, im Nirgendwo, und fremd. Zuckelfahrten, Zeitvergessen, Zugzen.
Die kleine Eule dreht ihren Kopf im Gefieder wie ich meinen Hals in Schichten aus wolligem Schal. Es ist Winter. Wir bewegen uns nur langsam.