Ich muss wie ein gejagtes Reh durch die Nacht laufen. Oder zum Klavierhocker wieseln und ein Fünfminutenkonzert in die Wände des Hauses schmettern. Ich entdecke, dass mir Gesang am Klavier viel leichter fällt als an der Gitarre. Nichts kann wegrutschen. Ich muss mich nirgends festklammern. Ich bin beglückt.
Vielleicht ist ja Rodin schuld. Als ich mich für zwanzig Minuten dem Schlaf überantworte und beim Aufwachen stückweise die Erinnerung zurückkommt, weiß ich plötzlich, was es heißen könnte, in einer Kathedrale aufzuwachen. Mit dem ersten Blinzeln die Größe zu ermessen und mit dem zweiten den heißen Stich der Hingerissenheit zu fühlen und ab dem dritten nur noch Staunen zu sein. Nur kathedralisch kalt ist es hier nicht. Hier brennen die Julfeuer.
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Sechshundert Spulen
Ich höre einen Beitrag über die Unmöglichkeit endlosen Wachstums. Ich muss an die sechshundert Spulen Faden denken, die ich einmal geschenkt bekommen habe. Ich mag diese Kisten voller Garn. Immer, wenn ich sie anschaue, sehe ich mich in irgendeiner Zukunftskommune sitzen, im Hof rennen die Hühner, und einer kommt mit seiner zerrissenen Hose herein. Ich werde sie flicken. Es wird nicht schick aussehen, eher verschroben und hobomäßig, aber wenn er will, bekommt er noch eine bunte Stoffrosette an den Hut genäht oder die Haare geschnitten.
Ars vivendi
Ich bewege mich durch eine Welt, wo reife Granatäpfel von den Bäumen fallen. Ich kann sie aufplatzen lassen, ihre roten Kerne lutschen, meine Zunge mit ihrem Saft färben. Außerdem riecht es nach Zedernholz und Badeöl hier. Die Nächte sind voller Arbeit. Ein blinder Ritter taumelt durch meine Wälder, ein Gnadensucher, und die Eisvögel lassen ein paar Federn für mich. Heißes Glück und heißer Schmerz, Können und Wollen, ars moriendi und ars vivendi sind hier dasselbe.
Wo alle das Wetter fliehen, will ich hinaus in den Regen. Sympathisiere mit den überfließenden Bächen, will selber überfließen. Oder mit Streichhölzern spielen, am besten neben den Benzinseen fremder Seelen.
Ich träume von Eibenbeeren, von ihren fleischig roten Samenmänteln und süßem Gelee darinnen. Die Kerne muss ich ausspucken. Hundert Gramm davon bringen ein Pferd um. Das keucht mir der blinde Ritter zu. Manchmal bleiben Pfeile neben unseren Gliedmaßen stecken. Heftig zitternd. Die Gewolltheit dieses haarscharfen Danebenschießens ist atemberaubend. Übungspfeile sind das. Jemand will noch gar nicht treffen. Jemand hat ein Kunststück mit uns vor. Wartet auf den richtigen Pfeil, auf den richtigen Moment, wenn wir einmal dicht beisammen sind. Zwei Fliegen mit einer Waffe, zwei Narren mit einer Spitze, zwei Seelchen auf einem Schaft. Wir starren gebannt ins Dunkel des Waldes. Gnade uns Gott. Dieser Schütze ist gut. Dieser Pfeil wird sitzen.
Hetzjagd
Zwischen Regalen voller Männerhemden schleichen die Geparden und tarnen sich als Gentlemen. Wir tragen Karnevalsmasken. Ich muss raus auf die Felder und laufen. Über die winterkahlen Hügel hetzen, durch den Wind, wo niemand ist. Nur mein Atem und ich.
Spinnerland
Durch die Nacht treiben und kindisch sein, Flaschendrehen und Ringelpiez, Klavierspiel und Soprangurgeln, Schneeballschlacht und Feuerwerk. Grüner und weißer Absinth, Futter und Übermut im Übermaß. Wie eine kleine Reise fühlte sich mein Jahreswechsel an, eine Reise zu siebt, ins Feierland, ins Spinnerland. Die Gäste gingen erst spät am Neujahrstag.
Manchmal will ich nicht essen, sondern fressen. Manchmal will ich die Durchschlagskraft eines Reiterbogenpfeils. Manchmal will ich sieben Körper gleichzeitig haben. Manchmal will ich einfach nur niederknien vor so viel Leben.