Ein koiroter Papierdrache steigt in den Himmel, steil, als habe seine Leine kein Ende. Ich lasse Weihnachten aus. Sonne mich stattdessen im Dachfenster, missbrauche meinen Knetradierer zum Figurenformen. Atme den Geruch von dänischem Tabak ein und von Kurzbüchsenmoos, dessen Grün dem Winter frech ins Gesicht lacht. Trage Sommerhosen, Keilschuhe, sehe der Welt beim Umbruch zu. Werde nicht müde zu beobachten wie das Internet Grenzen durchätzt, die Highspeed-Chemikalie, die Möglichkeitenmaschine. Stöbere im Steam Sale, Parallelwelten, Fluchtparadiese, bin voll halbgarer Ideen und ungeduldig. Mit minimal schlechtem Gewissen, weil ich es wie einen Fiffi behandle, binde ich dem alten Jahr eine bunte Schleife ins Genick. Zum Koirot gesellen sich Rosa und Türkis.
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Eistanzen
Ich verfasse das Glaubensbekenntnis des beherzten Deterministen. Physikerästhetik. Nur weil wir nicht die Rechenpower haben, auch nur die nächsten fünf Minuten der Moleküle in einer Kaffeetasse zu berechnen, heißt das ja nicht, dass sie nicht durchaus alle ihren Gesetzen folgen. Anschließend lege ich meiner französischen Freundin die Verwandtschaft von Resignation und Gelassenheit nahe.
Ich freue mich schon jetzt aufs Tübinger Bücherfest, auf Platanen, auf Frühsommernächte. Lese Helen Oyeyemi, trinke neunjährigen Banyuls. Bestaune die weiße Weite der Stuttgarter Stadtbibliothek und lasse ein Autogramm da. Später begebe ich mich aufs Eis, metaphorisch, zwischenmenschlich, und wortwörtlich, auf Schlittschuhen. Wo ich die bessere Figur mache, bleibt fragwürdig, hier wie dort teste ich Grenzen, auf der Nase landen könnte vorprogrammiert sein. Deterministisch. Trotzdem, was ich jetzt brauche, ist keine Rechenpower, sondern einen Hauch mehr Beherrschung als Draufgängertum.
Medizin
Manchmal gehen Nächte verloren. Werden eingetauscht gegen ein Glas Gummischlangen und einen Kopf voll Mittelmaßmusik. Hin und wieder gibt es einen abgebrochenen Fingernagel oder eine halbwegs brauchbare Erinnerung dazu. Die Nacht ist jedenfalls weg. Die Gummischlangen, rot, grün, gelb, kannst du essen, aber wacher machen sie dich nicht. Satter auch nicht. Du akzeptierst, dass die Leere dazugehört. Dass dieser Nichtort dir erst Richtung gibt. Du liegst auf dem Bett, keine Musik, auch wenn die eine oder andere Saite nachklingt. Wartest auf die Stille. Verabreichst dir gezielt ein Nichts, die Zimmerdecke nicht aus den Augen lassen, Nüchternheitsdroge, Medizin gegen den Überfluss.
Mehlstaubkörner beschriften
Auf der Stereoanlage läuft Keith Jarrett, Hifana und verschiedene Chiptunes. I cared not for consequences but wrote, lese ich bei William Blake. Es gibt Fastfood mit Rosenkohl. Ich bediene ein Bildbearbeitungsprogramm, wähle eine Schriftart aus. Werde vom plötzlichen Horrorgedanken verfolgt, eines Morgens in einer Welt aufzuwachen, in der alles beschriftet ist. Auf jedem Regal steht in klaren Lettern: Regal. Auf jedem Löffel: Löffel. Mehlstaubkörner mikroskopisch klein beschriftet: Mehlstaubkorn. Mein Blick sucht fieberhaft nach Dingen, die ich nicht benennen kann.
Barockbeichtstühle
Ich schleppe einen Arm voll gut erhaltener Geohefte aus den Achtziger Jahren nach Hause. Schulaltpapier, eine Fundgrube erster Güte für passionierte Collagisten, denke ich. Noch am selben Nachmittag fahre ich nach Neresheim und friere mir, ehrfürchtig Fresken und Orgel bestaunend, in der Klosterkirche den Hintern ab. Unwirklich, prachtbauerschlagen, die massive, christliche Leere, wir proben ein Stück von Jakob Ullmann, das siebzig Minuten dauert. Proben nochmal und nochmal. Zwischendurch müssen wir nach draußen, während die Mönche ihre Andachten halten. Bei der Vesper aber, im Vorhof ist es mondig, schleichen wir dann doch nach drinnen, Steinstufen, Goldranken, Barockbeichtstühle, und die Stimmen der zehn, zwölf Benediktiner surren wie ein Bienenschwarm. Als die Schwarzgewandeten zurück in ihre Zellen schlurfen, alle Türen verschließen, alle Lichter löschen, starten wir die Aufnahme. Nur auf der Empore brennen noch ein paar Funzeln, das bisschen Licht verliert sich in der Weite des Kirchenschiffs. Ein Organist, eine russische Orgelstudentin, ein Komponist, ein Techniker, ich und siebzig Minuten außerweltlicher Konzentration. Thriller sind ein Dreck dagegen. Es ist kurz vor Mitternacht, als wir die Mikrofone einpacken und die Orgelmanuale wieder abdecken.