Category Archives: Tagebuch

Zeitlupe

Improvisierte Therapiesitzungen, Monster erwecken, Theaterkrieg. Parallelwelten auf der Bühne, in denen wir die eigenen Wunden, Ungeheuer und Aggressionen mit einer Goldschicht überziehen, Raffinationsspiele, Veredelungssport. Indessen rast ein Zug auf eine Brücke zu, deren weit gespannter Bogen sich im Nebel verliert. Wir ahnen, dort, mitten über der Schlucht, hören die stählernen Streben auf, enden die Gleise, diese Brücke steht ins Nichts gebaut. Aber wir feuern den Heizer an, lachend, ungeduldig. Die Notbremse geht ohnehin nicht mehr. Wie schön, dass Unfälle immer in Zeitlupe passieren.

Waschmittelgeruch

Frühlingsschnee rieselt über mein stilles Kopfzerbrechen, Arbeit am literarischen Quovadis, Hirnspagat. Zwischendurch muss ich Buntes tun, also kaufe ich eine Kittelschürze im Caritasladen und nähe mir einen Minirock daraus. Ich versuche mir die Oma vorzustellen, die den Kittelschurz einmal getragen hat. Frage mich, ob sie darin Apfelkuchen gebacken hat oder Toiletten geputzt, ob sie das Muster auf der Straße wiedererkennen würde. Mein Rock riecht noch nach ihrem Waschmittel.

Zwischenstopp

Gespräche darüber, was es bedeutet, in der Generation Pippi Langstrumpf zu leben, auch darüber, warum Deutschland computerspieltechnisches Neandertal ist und die Frage, warum Berlin, Berlin, Berlin. Dass man in Berlin so viel über Berlin redet, ist womöglich vergleichbar mit dem Zustand Betrunkener, die nur noch über ihre Betrunkenheit reden können. Dazu Thunfischsalat und Bier in der Volksbühnenkantine, ohne Helene Hegemann und Yoko Ono. Auf der Heimfahrt im Zug bewundere ich die Schönheit schlafender Koreanerinnen und ertappe mich bei allerlei zärtlichen Gedanken. An Profiliergeier gleichermaßen wie an diejenigen, die ihre Sache ohne großes Tönen machen. An flüchtig Kennengelernte und intensiv Verschlungene, an Kollegen und Freunde. Es wird Zeit für was Transrapidartiges zwischen Ulm und Berlin, denke ich. Mit Zwischenstopp in Frankfurt bitte.

Mathematik

Ein Unternehmensberater teilt seine Beobachtungen über einen ihm bekannten Studenten mit mir. Wer nachts um halb drei nach einem ausgiebigen Fest Mathe lernt, ist entweder ein Faulpelz, der am nächsten Tag einen Test schreibt, oder ein wahrhaft freier Geist, sage ich. Beim Sagen frage ich mich, ob ein Fest, das um halb drei endet, überhaupt ein ausgiebiges gewesen sein kann. Werde von der Antwort, einen Test habe es nicht gegeben, abgelenkt und verliebe mich spontan in jenen Unbekannten, der sich mitten in der Nacht aus freien Stücken der Mathematik hingibt. Ich unterhalte mich mit einem Theatermacher über asiatische Nachtische, mit einem Ingenieur über ägyptisches Kino. Weil meine Begleiter schon vor halb drei Schluss machen, keiner tanzen will, muss ich am nächsten Tag wohl oder übel durch den Regen laufen, einen Kilometer nach dem anderen. Irgendwohin muss die gebündelte Energie ja gehen.

Altes Gummi

An Silvester wandere ich mit großen Augen durch den Böllernebel. Durch die Geschützaufbauten, durch die Partygesellschaften, am Fluss entlang. Man schmeißt sich, säuft sich, ballert sich weg. Menschen hängen wie überreife Früchte an Geländern und über Mauern, manche kreischen noch, andere schon nicht mehr. Ein lebendiges Vanitasmotiv, und niemand, mit dem ich mich darüber unterhalten könnte. Keiner scheint sich zu fragen, was er da eigentlich tut. Das Eigentliche interessiert nicht. Nichts ergibt Sinn an dieser Szene. Immerhin versetzt mich die konsequente Sinnlosigkeit in dasselbe Staunen wie tropische Riesenfalter oder plötzliche Wetterumschwünge. Der richtige Moment für eine Zigarette, ich wandere weiter. Wie um die Melodie der Nacht zu unterstreichen, zerfallen mir die Schuhe unter meinen Schritten, altes Gummi löst sich ab und bleibt auf der Straße liegen.