Die Reise nach Jerusalem

Juli Zeh nennt es eine Schallmauer. Sich eine Welt abkapseln über die Musik, ein Kopfhörerkind auf wechselnden Bahnsteigen. Die blauen Schilder zeigen die Ortsnamen. Es könnte irgendwas auf den Schildern stehen, ich könnte irgendwo sein. Mittags gibt es mal Nordisch, mal Chinesisch, mal Japanisch. Mein Herz schwimmt Schmetterling durch den heraklitischen Fußgängerfluss, der niemals derselbe ist.
Neben platten Mäusen und toten Kröten bringt der Herbst seine freitäglichen Unterwasserküsse und Überraschungen, die keine sind. Entwaffnete fallen ihrem Los anheim. Überhaupt, so scheint es, fallen zur Zeit viele in irgendeine Richtung. Manche fallen genussvoll und bewusst, die meisten wahllos und schnell. Das Leben ist kein Wettbewerb, denke ich, bleibe stehen und sehe zu. Die Reise nach Jerusalem darf ruhig ohne mich weitergehen.
Ich wechsle zwischen zwei und mehr Welten, ein sanftes Ticktack, der wenig regelmäßige Puls meiner Tage. Die Übergänge werden smoother, die Unschärfe weicht einem bisweilen bestechend scharfen Fokus. Zwar kann ich lange nicht von Synchronisation meiner Welten sprechen. Aber ich arbeite dran. Hart. Wie Wellen spülen die Tage ans Ufer. Es gibt Schuhe, in denen selbst ein rauer Kiesstrand weich wie Sand ist.

Bewegungsunschärfe

Plötzlich kracht eine neue Arbeitsphase herein. Zum ersten Mal sehe ich mein Leben mit Bewegungsunschärfe. Durchhalten, Kopf runter, alles wird gut. Niedig hängende Zweige peitschen um meine Ohren. Ich hoffe inständig auf meine Subprogramme und lasse die Zügel locker.
Nebenbei ereignet sich Erotisches auf einer der zahllosen Bühnen des Internets, ein Abschied, der ein Anfang ist und ein gefundenes Fressen für Voyeure. Fast bedauerlich, dass weder ich noch sie zur Zeit die Muße haben, unser Publikum durch weitere Akte zu schleusen.
Die Katzen indes schleppen öfter Mäuse an. Auf dem Weg vorm Balkon bleiben sie liegen, kleine graue Liebesgaben. Leicht unklar nur, für wen. Was nach ein paar Tagen von einer solchen Maus übrig bleibt, ist erstaunlich wenig, kaum mehr als ein verdorrtes Blatt.
Die Luft beginnt nach reifen Äpfeln zu riechen.

Fahrt über Land

Die Fahrt über Land, ich folge Schildern mit unbekannten Ortsnamen. Die Straße wird schmaler, windet sich durch Täler und Wälder, mit abgefressenen Asphaltkanten. Plötzlich verschwindet der Mittelstreifen, an einem Hang weidet eine Herde, Schafsköpfe geschäftig ins Gras verfilzt. Auf vielen Kilometern kommt mir kein einziger Wagen entgegen. Aufmerksame Kühe heften ihre tiefgründigen Blicke an meine rote Lackkapsel. Sie sehen aus als wüssten sie, dass sie Teil des Musikvideos sind, das das Autoradio, es läuft ein Album von Unkle, und die Regie meiner Augen aus dem Stegreif erstellen. Weiße Windräder, Wacholder, in der Ferne ein Kloster.
Zurück in meinem Zimmer. In einer hohen Glasvase steht die perfekte Rose. Neben ihr verwelken zwei andere. Sie selbst lässt sich Zeit mit dem Öffnen.

Calippo

Ich spiele ein bisschen Kindfrau, Calippo in der Hand, den Wassereisständer mit Colageschmack. Sitze über Master Mind, klaube bunte Stöpsel zusammen, bin immer noch gut.

Chlorlandschaft

Wann ich zum letzten Mal im Schwimmbad war, keine Ahnung. Ich hatte den Geruch vergessen: ein türkisfarbener Geruch mit ein bisschen ölgelbem Pommesduft. Gestern, wir waren nass und atemlos, wie die Jungs, die zum zehnten oder zwanzigsten Mal den Rutschturm hochrennen, mit Luftreifen oder ohne.
Einer der Jungs fragt mich, ob ich mit ihm seinen Reifen halte. Er ist nur einen Kopf kleiner als ich und wie es aussieht, käme er allein zurecht. Aber er macht den Hundeblick, den kleine Jungs sonst nur ihrer Mutter oder der besten Freundin zeigen, wenn sie eine haben. Ich packe mit an, wie im Spiel, nicht wirklich viel tragend. Er verschwindet selig in der Rutschröhre.
Dann einer, der viele Bahnen geschwommen sein muss. Er pflügt neben mich hin, Wasser im Bart. Ich versuche, ihn unterzutauchen. Luft anhalten, warnt er, und tunkt stattdessen mich unter Wasser. Und für jedes Anspritzen will er mich nochmal auf Tauchstation setzen, sagt er. Er packt mich untern Arm wie eine Reisetasche ohne Henkel. Dass er schon mindestens drei graue Haare in seinem Pferdeschwanz hat, spielt keine Rolle. Er ist fünfzehn und ich auch. Sorgloser als Kinder, weil wir die ganzen Kindersorgen nicht mehr haben, glitschen wir durch die Chlorlandschaft.
Andere Tage, ich schnurre wie eine Spieluhr, deren Musikbändel längst nicht eingezogen ist, die Melodie läuft ein bisschen zu schnell, fröhlich und aufgeregt. Ich gehe im Felsenmeer spazieren, ich schreibe, ich lese, ich bade und bin immer noch nicht müde. Glücklich, ohne zufrieden zu sein. Auf dem Balkon gibt es Sumpfmeise mit Papageienfutter.