Höhengier

Mit Zigarillo zwischen den Lippen, und José González legt mir seine Slow Moves ans Herz. Die höhengierigen Flügel im Zaum halten.

Literarische Landkarte

Die zwei Meter hohen Schneehaufen neben der Straße sind angeschmolzen, liegen als dreckige Monster herum. Es schneit darauf. Bald tragen sie wieder ihren flauschigen Schafspelz. Dafür sieht die weiße Katze im hellen Schnee plötzlich schmutzig aus. Ein Thunfischsalat reicht, lesend, von Würzburg bis Fulda. Grünen Tee bestelle ich auch. Und bevor ich wieder umsteige, eine heiße Schokolade zum Nachtisch. Quer durch die Republik, fürs Textgefühl, für die Fingerspitzen und um weiter an meiner literarischen Landkarte zu zeichnen. Auf dem Rückweg, den Blick geschärft, dass ein guter Schreiber nichts als ein aufmerksamer Leser ist, Richtungswechsel in Frankfurt, bei trübem Wetter. Wir überqueren den Main, er kennt mich noch. Sieht aber betäubt und traurig aus. Schließlich ein Linsengericht zwischen Mannheim und Stuttgart, es wird kalt, und bis Ulm erfriere ich halb. Mal mit einem Bein neben der Gondel baumelnd, arbeitend und wartend und vermissend, und nichts bewegt sich. Mal von meinem Riesenrad in den Himmel gerissen, Schwindel, ein luftiger Morgen, weite Sicht, und alles auskostend, mit Gänsehaut und Glücksgesicht.

Südwärts gleitend

Wenn ich kalten Instantkaffee in der Mikrowelle erwärme, etwas Milch zugebe, ist das ein trinkbare Mischung. Gerade so. Warum ich mir das antue, keine Ahnung. Muss am Vollmond liegen. So wie vieles andere. Am Vollmond. Muss erst einer kommen und frischen Kaffee kochen, muss erst kommen und mich wieder weichmassieren. Klar. Zum Glück kommt der bald. Wenn Vollmond vorbei ist, kann ich die Krallen einfahren. Und das tu ich, schnurre wieder, mache Deals, denke an Linz, Tanz und die nötige Zeit zum Schreiben. Zeit für eine Kurzgeschichte, fragt mein virtuoser Freund. Nein, wird eher eine Novelle, sage ich. In einer Novelle, zitiere ich, wird oft ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben, was zu einem Normenbruch und Einmaligkeit führt. Sehr gut, ruft er, mehr Novelle. Und empfiehlt mir Durs Grünbein, faselt von Rückenmuskulatur und Dampf und weiß wohl, dass Schädelbasislektionen und südwärts gleitende Finger mich treffen könnten. Da wo der Pfeil neulich steckte, der hingeträumte. Gesättigt dampft der werdende Virtuose schließlich ab. Kleines verrücktes Ding, sagt einer. Schnellding, ein anderer. Oft schon wurde ich Ding genannt. Liebte ich Dich nicht, würde ich Dich hassen, schreibt mir meine beste Freundin. Das trifft mehr als alles andere.

Scheunentore

Als neues Lifestylegetränk gibt es Chai mit Ingwer und Zitronengras. Exklusive Modekataloge als Teelektüre. Neben der Badewanne das Buch vom Haben und vom Sein. Manchmal chinesische Jungliteraten. Viel zu viel Papier und den eigenen Hintern im Spiegel als Erinnerung herumtragen. Die Lederjacke vom Ledersofa pflücken und durch den Schnee gehen. Ein erträumter Pfeil dicht unter meiner Brust. Wenn der Moment passt: alle Sinne wie Scheunentore offenstehen lassen.

Märchenstunde

Mit allen Sinnen genießen, wenn das nicht so abgedroschen klänge. Ich will hören. Stimmen, Schlagzeugsoli, eine Gitarre und das Quietschen der Flugzeugsitze. Will schmecken. Heiße Schokolade, später Indisch, mit Mango und Guavensaft. Will fühlen. Ein alter Teppich, Sichtbeton, Hände. Will riechen. Ein Moderkeller, ein Ölofen, Ölfinger. Und sehen. Müde Augen, große Bilder, schöne Ohren. Und mehr, so viel mehr, Romane von Eindrücken. Später tagträume ich mir freche Märchenfantasien zusammen. Ich bin natürlich die Prinzessin, die nicht in den Dornen umkommt. Die Prinzessin mit dem grünen Daumen und dem scharfen Schwert. Ich schmeichle die Ranken beiseite, stoße die Türen auf. Ich erklimme Wendeltreppen, schlüpfe in heimliche Kammern. Dort schläft ein männliches Dornröschen. Ich untersuche es genau. Blass wie Schneewittchen, Ebenholzhaar, Prinzgesicht und Zwergennase. Statt seiner Hände sind die meinen kalt. Es hat tatsächlich Schwielen. Die muss es sich, genauso wie den Dreitagebart und die neuen Schuhe, herbeigeträumt haben. Es murmelt im Schlaf. Ich kann die Träume hören, wenn ich nur nah genug hingehe. Wenige Tage darauf kann ich nicht anders und halte einen Vortrag über Synästhesie. Nicht nur mit allen Sinnen genießen, sondern auch noch deren Schnittmengen auskosten. Fräulein Überschwang, Bombastgöre, Ekstasenkind. Im Geflimmer der Klänge baden, die Oberfläche des Geruchs betasten, Farbe schmecken. Du bist falsch verdrahtet, heißt es dann. Frau Holle schneit ein bisschen. Und durch den Märchenwald schleichen Wölfe. Wie immer.