Ich verbringe zehn Minuten damit, einer gleißenden Freude zu erliegen.
Dass man einer Freude erliegen kann, sollte ich vielleicht erklären. Es ist die Art von Freude, die mit heißen Tränen kommt, Dich durchschüttelt, die alles Unnütze wegbrennt und den reinen Kern hinterlässt. Es ist eine Freude wie Starklichtfackeln, die Sicht freibrennend, Wege weisend. Ich weiß, Rührung ist ein schmieriges Wort, aber in diesem Moment rührt sich alles in mir, Erdbeben sind das, Kontinente verschieben sich, formen eine neue Welt, eine Morgentauwelt, eine ganz junge.
Nachdem ich der Freude erlegen bin, ausgeheult habe, öffne ich eine Datei und tippe.
Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten
»Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört. Ein hässliches Endlein der Welt, über das man besser den Mund hält.«
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Festgier
Ich degustiere Absinth. Nur eine Zunge voll. Mit der Wasserkaraffe, den schmucken Gläsern und Löffeln und dem Zuckerstückchen warte ich. Bis später. Bis würdiger Besuch da ist.
Eine Lebenssucht macht sich breit, eine Feierwut, eine Festgier, diese saftige Augustlaune, die später in jedem reifen Apfel steckt und die jeder Wurm genauso liebt wie ich. Mehr als einmal zertanze ich zu massiver Beschallung meine imaginären Prinzesspantoffeln. In den Morgenstunden kommen manchmal die Cops.
Die Arbeitswut ist auch da. Ich schreibe von einem Monalisalächeln und von Mistböcken. Ich schleife einen Holzblock ab. Obendrein bin ich wissbegierig und quirlig wie ein kleines Mädchen. Oft sehe ich Sternchen vom vielen Rumhüpfen.
Erdnussbutter und Sommerflieder
Ich mache mal wieder Stiftung Nachtlebentest, trinke, lounge, tanze. Attestiere den meisten Diskothekenkonzepten Hohlheit. Allein die Werbeposter sind selten nichtssagend. Im Sinne von selten dämlich. Die Musik ist zu langsam, der Sound zu monoton, die Drinks sind zu dünn. Meinen Club, meinen Tempel, muss ich wohl noch finden, denke ich.
Ich nasche Erdnussbutter. Ich kriege jede Menge russischen Spam. Ich fahre nach Paris.
Mich erwarten Crêpes, Kreolisches, Sushi, kleine Einkaufsbummel und lange Spaziergänge. Wie gekonnt meine französische Freundin mich verwöhnt, nimmt mir jedes Mal den Atem. Wir pflücken Tomaten, Birnen, Erdbeeren, umwandern Châteaus, liegen im Garten einer Glasbläserei. Sie genießt es, wenn ich genieße, sagt sie. Sie behandelt mich wie ein liebgewonnenes Kind, wie eine heimliche Vertraute, wie den seltenen Gast, der ich bin. Die Wünsche auf meinen Lippen, manchmal ist es unheimlich, mit welcher Leichtigkeit sie ihnen nachkommt.
Die Erfüllung eines dieser Wünsche liegt in la Queue-lez-Yvelines. Dort gibt es eins der Glashäuser, die voller Schmetterlinge sind, und wir machen einen Roadtrip, wir fahren hin. Hunderte exotischer Falter umflattern mich da, fuchsrote, tiefblaue, schillernde, geäderte, geäugte, manche tragen Sonnenuntergänge auf ihren Flügeln, andere smaragdgrüne Mosaiken, wieder andere haben transparente Flügel, die aussehen wie schwarze Spitze. Hin und wieder senkt sich tropischer Dunst herab. Von irgendwo dringt leise Musik, fast wie in einer guten Bar. Ich betrachte Flügelvenen, Facettenaugen, filigrane Rüssel, die begehrlich in Blütenkelche gestoßen werden, gefiederte Fühler, sich paarende Falter, Puppen, Sommerflieder und die trägen Piranhas im Teich. Ich verliere mich in Details.
Anne Wiazemsky: Mein Berliner Kind
»Im September 1944 befindet sich Claire, Sanitäterin und Fahrerin beim Französischen Roten Kreuz, noch im Einsatzgebiet von Béziers. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, eine sehr schöne junge Frau mit großen dunklen Augen und hohen slawischen Wangenknochen. Wenn man ihr Komplimente macht, überhört sie das. Sie hat keine Zeit, sich im Spiegel anzuschauen, und wenn, dann nur flüchtig und immer etwas misstrauisch.«
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