Märchenstunde

Mit allen Sinnen genießen, wenn das nicht so abgedroschen klänge. Ich will hören. Stimmen, Schlagzeugsoli, eine Gitarre und das Quietschen der Flugzeugsitze. Will schmecken. Heiße Schokolade, später Indisch, mit Mango und Guavensaft. Will fühlen. Ein alter Teppich, Sichtbeton, Hände. Will riechen. Ein Moderkeller, ein Ölofen, Ölfinger. Und sehen. Müde Augen, große Bilder, schöne Ohren. Und mehr, so viel mehr, Romane von Eindrücken. Später tagträume ich mir freche Märchenfantasien zusammen. Ich bin natürlich die Prinzessin, die nicht in den Dornen umkommt. Die Prinzessin mit dem grünen Daumen und dem scharfen Schwert. Ich schmeichle die Ranken beiseite, stoße die Türen auf. Ich erklimme Wendeltreppen, schlüpfe in heimliche Kammern. Dort schläft ein männliches Dornröschen. Ich untersuche es genau. Blass wie Schneewittchen, Ebenholzhaar, Prinzgesicht und Zwergennase. Statt seiner Hände sind die meinen kalt. Es hat tatsächlich Schwielen. Die muss es sich, genauso wie den Dreitagebart und die neuen Schuhe, herbeigeträumt haben. Es murmelt im Schlaf. Ich kann die Träume hören, wenn ich nur nah genug hingehe. Wenige Tage darauf kann ich nicht anders und halte einen Vortrag über Synästhesie. Nicht nur mit allen Sinnen genießen, sondern auch noch deren Schnittmengen auskosten. Fräulein Überschwang, Bombastgöre, Ekstasenkind. Im Geflimmer der Klänge baden, die Oberfläche des Geruchs betasten, Farbe schmecken. Du bist falsch verdrahtet, heißt es dann. Frau Holle schneit ein bisschen. Und durch den Märchenwald schleichen Wölfe. Wie immer.